Geschichte der Walcker-Orgel

Wie die Baugeschichte zeigt, erhielt die Stadtkirche Winterthur im Jahre 1809 trotz des Zürcher Orgelverbotes eine grosse Barockorgel. Sie war auch für das rege Musikleben der Stadt von Bedeutung und stellt noch heute den wichtigsten Ausstattungsteil der grossen Kirche dar.

Dem 1524 erlassenen Verbot des Orgelspiels folgte drei Jahre später die Weisung zum Abbruch der Instrumente, dem auch das 1482 erstmals erwähnte, 1523 durch den Kaplan Bernhardin vergrösserte und vom Chor ins Schiff versetzte, bereits aus Hauptwerk und Rückpositiv bestehende Instrument zum Opfer fiel. Im Jahre 1808 gelang den Vertretern des Collegium musicum, das vom Stadtrat mit der Verbesserung des Kirchengesangs beauftragt war, der Kauf der grossen Liebfrauenorgel aus dem säkularisierten Kloster Salem nördlich des Bodensees. Das dreimanualige Instrument mit 42 Registern war 1768 von dem im oberschwäbischen Eldern geborenen, jedoch hauptsächlich in Frankreich geschulten und in Dijon wohnhaften Orgelbauer Karl Joseph Riepp (1710-1775) gebaut worden. Es diente als Chororgel der Epistelseite im südlichen Querschiff der grossen gotischen Zisterzienserkirche. Hier errichtete der bedeutende Kunsthandwerker in der Folge auch das Instrument der Evangelienseite und die im Gehäuse noch in situ erhalten gebliebene grosse Hauptorgel im Westen. Mit der Gestaltung der Gehäuse und dem künstlerischen Schmuck war Joseph Anton Feuchtmayer (1696-1770) beauftragt.

Im Frühjahr 1809 setzte der Konstanzer Orgelbauer Gottfried Maucher (um 1740-1828) das wohl aus Platzmangel im Pedal um zwei Register reduzierte Werk auf den damals in Winterthur noch bestehenden Lettner zwischen Chor und Schiff. Unsachgemässe Eingriffe, wie die nachträgliche Überführung des Rückpositives von der Emporenbrüstung ins Innere des Hauptwerks wie auch die Reduktion der ursprünglichen Balganlage, führten bald einmal zu Störungen. Im Jahre 1836 beauftragte man den damals wohl berühmtesten Orgelbauer der Schweiz, den Freiburger Aloys Mooser (1770-1839), mit der Behebung der Schäden. Gleichzeitig wurde die Orgel auf die untere Empore im Westen versetzt (es scheint, dass damals zwei übereinander liegende Emporen an der Westwand eingebaut waren). Mooser starb während des Umbaus, und seine Söhne waren nicht in der Lage, das Werk zur Zufriedenheit der Auftraggeber zu vollenden. Man berief deshalb den aus dem badischen Laufenburg stammenden Friedrich Haas (1811-1886), der die nun auf 44 Register angewachsene Orgel im Jahre 1843 fertigstellte und die hochgesetzten Erwartungen erfüllte. Vor allem der Wandel des Zeitgeschmacks war der Grund für einen erneuten Umbau 1888 durch die damals führende Orgelbaufirma E. F. Walcker in Ludwigsburg, die durch Umarbeitung des Pfeifenmaterials von Riepp, Mooser und Haas und durch Hinzufügen von neuen Registern auf den damals neu entwickelten Kegelladen die Orgel mit 52 Registern hinter dem alten Prospekt aus Salem neu aufbaute.

Ein Umbau 1922/24 brachte eine Spielerleichterung durch den Barkerhebel, und 1934 wurde unter dem Einfluss der Orgelreformbewegung die Disposition im barocken Sinn korrigiert und auf nunmehr 61 Register erweitert und zugleich die elektrische Traktur eingebaut.

Der Entschluss, dem durch die vielen Eingriffe entstandenen heterogenen Zustand ein Ende zu bereiten, führte in den Jahren 1980 bis 1984 zur Rekonstruktion des Walckerschen Umbaus von 1888 durch die Firma Kuhn in Männedorf unter Beibehaltung von drei Zungenregistern von 1932 und der Reduktion auf 56 Register. Dieser Massnahme ist zu verdanken, dass eines der letzten grossen spätromantischen Orgelwerke des deutschen Kulturkreises in unserem Lande erhalten geblieben ist.

Der Orgelbauer Riepp baute sein Werk in der französischen Tradition, die am Prospekt mit den fünf schlanken Türmen abgelesen werden kann. Diese sind mit Ausnahme des leicht aufgestülpten Segmentbogens über dem kleinen Mittelturm durch horizontale Kranzgesimse bekrönt und durch vier Flachfelder, deren Äussere leicht konkav nach vorne gezogen sind, verbunden. Die Aufgabe Feichtmayers beschränkte sich offensichtlich auf die Ornamentik und die musizierenden Putten. Die qualitätvollen Schnitzereien zeigen denn auch mit den sich zu Voluten einrollenden C-Bogen, dem zierlichen Akantus und den frühklassizistischen Elementen der Festons und der gebündelten Stäbe der Rahmen die hohe Kunst der süddeutschen Dekoration vom Rokoko zum Louis XVI. Zum vollständigen Bild dieser prachtvollen Fassade gehörte früher auch das heute nicht mehr vorhandene Rückpositiv in der Emporenbrüstung und einige anlässlich der Neuaufstellung in Winterthur – vor allem bei den Turmbekrönungen – weggelassene Ornamente. Vom Umbau des Jahres 1888 stammen die in Holz geschnitzte sorgfältig gefasste und von einem Joch gerahmte Draperie und der durch eine Krone geraffte Stoffvorhang über dem Mittelteil, hinter dem sich das grosse Schwellwerk verbirgt.